Vici Lunz: Beständiger Weg des Lebens


Die trüben Augen wandern über das Meer als wären sie auf der Suche nach etwas. Die Falten zerfurchen das Gesicht. Die Haut ist schlaff, das schlohweiße Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Ich versuche ihrem Blick zu folgen. Doch der wandert unentwegt am Horizont auf und ab.
„Das hier ist Glück“, sagt sie mit fester Stimme.
In dem hölzernen Gartenstuhl blickt sie majestätisch auf ihr „Königreich“ hinab. Auf die Bucht, über den steilen Abhang bis zu der Stelle, an der das Meer mit dem Himmel verschmilzt.
„Ich bin glücklich. Immerhin habe ich gelebt, ich habe viele Menschen getroffen, vieles ist passiert. Und wenn ich hier sitze, weiß ich, dass alles, was ich gesehen und erlebt habe, Schritte meines Weges hierher waren.“
Ich kann ihren Blick spüren, der nun auf mir ruht. Als ich mich ihr zuwende, blicke ich direkt in ihre Augen. Sie sind so blau wie das Meer unter uns. Immer noch ist sie schön. Keine verwelkte Schönheit, sondern eine veränderte.
„Glück ist nicht die Abwesenheit von Unglück. Es ist aber auch nicht das Erreichen von allem, was man sich wünscht.“
Wir sitzen schweigend nebeneinander. Ich denke nach, was Glück für mich ist
„Zuerst müssen wir zufrieden sein – mit uns selbst und dem Leben, das wir führen. Glück ist nicht ohne Zufriedenheit möglich. Wer immer das im Blick hat, was er nicht hat, wird niemals glücklich sein.“
Vielleicht muss man ein gewisses Alter erreichen, um zu erkennen, was wirkliches Glück ist, denke ich bei mir.
„Es ist aber auch eine Entscheidung glücklich zu sein.“ Sie lacht. „Wer unglücklich sein will, der ist es auch. Und wer nur glücklich sein will, der wird es auch nicht. Man muss schon wirklich entscheiden glücklich zu SEIN.“
Die Sonne taucht den Himmel und das Meer in ein zartes rot. Wie ein glühender Ball senkt sie sich auf das Meer hinab.
„Ich spüre immer noch das Salz auf meiner Haut, die Sonne in meinem Gesicht, höre die Tanzmusik und spüre die Hand des Burschen an meiner Hüfte – den Kuss auf meinen Lippen“, mit einem neckischen Lächeln wandert ihr Blick wieder in die Ferne. „Nichts hat sich verändert. Ich bin noch dieselbe – denke die gleichen Gedanken, habe die gleichen Ängste und Freuden. Und doch ist alles anders geworden.“
Mein Schweigen lässt sie weitersprechen. „Die Welt ist eine andere geworden – manchmal langsam, manchmal schneller. Ich bin alt geworden. Jeden Tag spüre ich es mehr. Alles ist beschwerlich geworden – sitzen, gehen, stehen. Aber ich bin immer noch ich. Wir werden alle alt, Schritt für Schritt. Keiner kann es aufhalten. Wir können versuchen uns zu wehren, aber es wird vergebens sein. Also bleibt uns nichts, als es zu akzeptieren – das Beste daraus zu machen.“
„Aber du scheinst mit dir im Reinen zu sein.“
Sie stößt ein verächtliches Schnauben aus. „Die Jungen denken immer, die Alten sind mit sich im Reinen – sind Weise geworden. Aber das ist nicht wahr.“
Bei den letzten Worten fixierte sie mich wieder mit ihrem Blick. Er ist so fest, dass ich ihm nicht standhalten kann.
„Auch ich hadere – mit dem Alter, mit der Welt, manchmal mit mir selbst. Ich weiß, wenn man jung ist, hadert man auch. Aber man kann noch Pläne machen, davon träumen die Welt zu verändern oder ganz einfach die eigenen Träume verwirklichen. Irgendwann plant man nicht mehr zu weit voraus, man weiß schließlich nicht, wie viel Zeit einem noch bleibt. Man weiß, dass sich die Welt nicht nach den eigenen Vorstellungen verändern wird, weil man zu oft gesehen hat, dass sie es nicht tut.“
Ich schweige wieder. Mein Blick ruht auf der Unendlichkeit des Meeres.
„Irgendwann hat man nichts mehr – keine Wünsche, keine Träume, keine Familie und keine Freunde. Die Träume haben sich in Luft aufgelöst. Die Wünsche sind alle erfüllt oder werden es nicht mehr werden. Freunde und Familie sind gestorben, Kinder weggegangen, um ihr eigenes Leben zu leben. Man ist allein. Wie ein Relikt aus vergangener Zeit, vom Tod vergessen.“
Sie seufzt und schweigt einen Augenblick. „Aber das klingt alles als wäre ich verbittert.“
Ich möchte in ihrem Gesicht lesen. Doch als ich sie ansehe, scheint es mir, das Lächeln eines jungen Mädchens zu erblicken – nur für einen Augenblick.
„Wir sind alle auf der Suche, wir sind Suchende – unser Leben lang. Erst wenn wir alt werden, werden wir zu Findern. Und wenn wir versuchen den anderen bei der Suche zu helfen, wollen sie nichts davon wissen. Aber das ist auch gut so, denn sie müssen jeden Schritt selbst gehen.“
Die Sonne ist nun fast im Meer versunken. Die Brise wird kühler.
„Kannst du mir eine Decke holen?“, bittet sie mich. Wieder versuche ich in ihren Augen zu erkennen, was sie mir eigentlich sagen will. Und wieder blitzt mir kurz der jugendliche Schalk entgegen, wie ich ihn von mir selbst kenne. Wortlos stehe ich auf und gehe ins Haus, begleitet von ihren Blicken.

*

Ich trete wieder in den Garten hinaus. Er liegt ganz still, während die Sonne den Himmel mit letzter Kraft in rotes Licht taucht, bevor sie ins Meer stürzt. Der Stuhl steht an derselben Stelle wie zuvor. Aber jetzt ist er leer – sie ist verschwunden.
Allein bleibe ich zurück. Eine Müdigkeit erfasst mich und ich lasse mich in den Sessel sinken. Unser Weg führt unweigerlich in die Zukunft, ins Alter – Schritt für Schritt. Erschöpft schließe ich die Augen. Begonnen hat es schon vor langer Zeit.